Ticken wir noch rightig? (Teil 1)
Dr. Franz Mattig und Claudia Mattig trafen sich mit Prof. Dr. Karlheinz Geissler und Jonas Geissler Ende Oktober 2014 in Zürich zum Gespräch, aus dem wir Auszüge veröffentlichen.
* Prof. Dr. Karlheinz Geissler (2.v.l.) zusammen mit Sohn Jonas (l.) sowie Claudia und Dr. Franz Mattig, im Victorinox Flagship Store Zürich: «Vernünftigerweise verwendet man beim Schweizer Taschenmesser immer nur eine Funktion aufs Mal. Würde man alles miteinander herausklappen, wäre das Messer unbrauchbar und seine vielen unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten sinnlos. So ist es auch mit der Zeit: Alles gleichzeitig geht nicht…»
Franz Mattig: Herr Dr. Geissler, wann haben Sie Zeit erstmals wahrgenommen?
Karlheinz Geissler: Als ich fünf Jahre alt war, erkrankte ich an Kinderlähmung. Bis vor kurzem ging ich noch am Stock. Jetzt sitze ich im Rollstuhl. Ich konnte also mein Leben lang nicht beschleunigen. Trotzdem musste ich in unserer hochbeschleunigten Gesellschaft – ohne selbst mitrennen zu können – einen Platz finden, der für mich attraktiv war und auf dem ich etwas bewirken konnte.
Franz Mattig: Wie sind Sie auf Ihr Forschungsgebiet Zeit gekommen?
Karlheinz Geissler: Ich habe Ökonomie, Pädagogik und Philosophie studiert. Mit der Zeit geht die Ökonomie ganz anders um als die Pädagogik oder die Philosophie. In der Ökonomie müssen Sie möglichst viel Zeit gewinnen, in der Pädagogik müssen Sie Zeit möglichst geschickt verlieren. Als ich dann mit 29 Jahren Professor wurde, sahen sich meine Studierenden damit konfrontiert, in einem ökonomischen Umfeld Pädagogik betreiben, organisieren und durchführen zu müssen. Es ging darum, wie sich der Konflikt zwischen den Ökonomen und den Pädagogen produktiv nutzen lässt. Im Laufe der Jahre habe ich mein Fachwissen dann vermehrt unter dem Aspekt Zeit betrachtet. Da aber jede Wissenschaft einen eigenen Zeitaspekt hat, gibt es keine übergeordnete Zeitwissenschaft. Allenfalls sind Philosophen Zeitwissenschaftler, weil sie schon immer ausgedehnt über Zeit nachgedacht haben.
Claudia Mattig: Herr Geissler, wie war es bei Ihnen – wurden Sie ins Thema hineingeboren?
Jonas Geissler: Ja, klar. Ich bin im Haus eines Zeitforschers aufgewachsen. Das Thema war einfach ständig präsent. Nach meinen Lehr- und Wanderjahren, während denen ich mich der Zeit immer wieder genähert aber auch von ihr entfernt habe, wurde die Idee geboren, die Zeit nicht nur wissenschaftlich, sondern auch ganz praktisch zu betrachten. Es lohnt sich, im Alltag und im Unternehmen dann und wann die Zeit-Brille aufzusetzen und das Leben und die Welt auch aus dieser Perspektive zu betrachten.
Franz Mattig: Im Wirtschaftsleben, speziell aber im Unternehmertum, spielt Zeit eine zentrale Rolle. Dort ist Zeit ein permanenter Faktor und zugleich treibende Kraft. Überall bestehen individuelle, d.h. unterschiedliche, teilweise diametral auseinanderstrebende Zeitansprüche: beim Unternehmer, beim Mitarbeitenden, beim Kunden, bei den Stakeholders usw.
Jonas Geissler: Weil dem so ist, gibt es für mich in dieser Sache auch kein richtig oder falsch. Ein Unternehmer sollte sich vielmehr der unterschiedlichen Zeitansprüche bewusst werden und sich z.B. fragen: Ist schneller immer besser? Es gibt viele zeitliche (Beschleunigungs-) Zwänge. Beschleunige ich auf der einen Seite zu stark, brauche ich auf der anderen Seite auch Brems- bzw. Entschleunigungsmechanismen.
Franz Mattig: Wenn ich beim Entwickeln eines Produkts den Faktor Zeit nicht systematisch berücksichtige, wirkt sich das unter Umständen auf das Resultat aus…
Jonas Geissler: …und mündet schlimmstenfalls in einer Rückrufaktion.
Claudia Mattig: Wie kommt es, dass wir uns alle doch recht freiwillig der gemessenen Zeit, also dem Takt, unterwerfen?
Karlheinz Geissler: Der Takt hat viele Vorteile. Unsere Wirtschaft würde ohne ihn nicht funktionieren. Wer in diesem System den Takt einhält, wird ganz stark belohnt – mit Geld, Gütern und Wohlstand.
Franz Mattig: Pünktlichkeit ist auch wichtig
Karlheinz Geissler: Pünktlichkeit ist eine Folge der Vertaktung. Die Frage ist, welche Grenzen hat das Takt-Prinzip? Wer definiert die Grenzen?
Jonas Geissler: Wer über die Zeit bestimmt, übt Macht aus. Wer die Menschen synchronisiert, steuert ihr Verhalten. Denken Sie an den Beginn der Industrialisierung: Am Tor mussten die Arbeiter ihre eigene Uhr (sofern sie eine hatten) abgeben, weil in der Fabrik drin nur die Zeit des Unternehmens galt.
Karlheinz Geissler: Mit der Vertaktung und damit der Uhrzeit lässt sich die Natur ein Stück weit beherrschen. Mittels Takt versucht der Mensch, sich von Naturprozessen unabhängig zu machen. Das ist die Logik des Takts, bei dem ich über die zeitlichen Abläufe selbst bestimme, während der Rhythmus das Naturprinzip darstellt.
Claudia Mattig: Es ist aber illusorisch, die Natur beherrschen zu wollen.
Karlheinz Geissler: Natürlich. Auch Geld ist eine Illusion; und die Verbindung von Takt und Geld erst recht.
Jonas Geissler: Obwohl Takt und Geld Illusionen sind, generiert gerade ihre Verbindung viel Wohlstand.
Karlheinz Geissler: Würden Takt und Geld als Illusionen nicht funktionieren, würde auch der Kapitalismus weder als Geld- noch als Zeitkapitalismus funktionieren.
Claudia Mattig: Eine Landkarte ist ja auch nicht die Landschaft, sondern nur ein Bild davon
Karlheinz Geissler: So wie die Uhr nicht die Zeit ist.
Claudia Mattig: Aber im Gegensatz zu einer Landschaft ist Zeit schwieriger zu erleben
Karlheinz Geissler: Weil wir als Menschen keinen Zeitsinn haben, können wir Zeit nur indirekt erleben, indem wir z.B. einen ideal gealterten Wein trinken.
Claudia Mattig: Oder wie der Fisch das Wasser erlebt, in dem er schwimmt.
Karlheinz Geissler: Für uns Menschen ist die Zeit das, was für die Fische das Wasser ist.
Jonas Geissler: Wobei man davon ausgehen darf, dass Fische das Wasser vermutlich sehen.
Karlheinz Geissler: Das weiss ich nicht. Jedenfalls können sie nicht darüber nachdenken. Immerhin kann der Mensch über Zeit reflektieren, zumindest das hat er den Fischen voraus.
Franz Mattig: Wenn uns der Takt so viel Wohlstand bringt – was ist dann falsch an ihm?
Karlheinz Geissler: Es ist wie mit der Beschleunigung. Wenn sie belohnt wird, meinen wir, Beschleunigung sei immer und überall gut. Das ist aber ein Irrtum. Wir dürfen die Zeit nicht nur quantitativ sehen. Wenn Sie die Zeit auf der Uhr ablesen, gehen Sie rein quantitativ vor. Sie erfahren dabei nichts über die Qualität der Zeit. Es existieren aber zahlreiche unterschiedliche Qualitäten von Zeit, z.B. in Form einer Arbeitsstunde oder einer Pause.
Franz Mattig: Ist es nicht ein hoffnungsloses Unterfangen, gegen den allgemeinen Zeit- bzw. Takt-Strom schwimmen zu wollen?
Jonas Geissler: Wer Zeit hat, ist fast schon verdächtig. – Was, Du hast Zeit…? Was ist denn mit Dir los…? Manchmal setze ich den Schluss eines Seminars im Programm auf 18 Uhr fest, höre aber bewusst schon um 17 Uhr auf. Den Teilnehmenden sage ich dann: Jetzt schenke ich Ihnen mal eine Stunde Zeit.
Claudia Mattig: Panik im Publikum!
Jonas Geissler: Genau. Oft reagieren die Leute dann nach dem Motto: «Oh Gott, diese Stunde muss ich sofort füllen, weil die anderen sonst denken, ich hätte nichts zu tun.» Anderseits muss man sich die Frage stellen, ob man überhaupt freie Zeit will und wenn ja, wozu.
Claudia Mattig: Gefüllte Zeit ist aber keine freie Zeit mehr.
Jonas Geissler: Genau. Freie Zeit wird genutzt, um sie zu füllen und um zu beschleunigen. Karlheinz Geissler: Ende Oktober wurde von Sommer- auf Winterzeit umgestellt. Plötzlich hatten wir alle eine Stunde mehr Zeit. Was haben wir damit angestellt? Ich sage es Ihnen: Weil unsere Gesellschaft Angst vor freier Zeit hat, wurde die Zeitumstellung in die Nacht verlegt, wo wir sie dann mehrheitlich verschlafen haben…
Franz Mattig: Bedeutet freie Zeit nicht auch Freiheit, für die ich dann Verantwortung übernehmen muss? Ein voller Terminkalender befreit mich von dieser Pflicht.
Jonas Geissler: Die Frage ist: Wie möchten Sie Ihr Leben leben? Ein Herzchirurg hat plötzlich genug und wird Lastwagenfahrer. Oder ein Manager wird zum Alpsenn. Manchmal fliegen Menschen mehr oder weniger einfach so aus der Zeit-Kurve.
Franz Mattig: Das kommt mir vor wie jemand, der untrainiert einen 4000er besteigen will. Nach der Hälfte der Strecke klappt er zusammen.
Karlheinz Geissler: Man sollte unbedingt auf die Zeit-Signale seines Körpers achten. Er teilt mit, wenn und wann er eine Pause braucht. Nur haben wir weitgehend verlernt, auf diese Signale zu hören bzw. sie überhaupt zu erkennen. Es braucht Sensibilität für die eigene Ortstermin im neuen Victorinox Flagship Store Zürich: Zwei Zeit-Reisende staunen wieder Mal über die Uhr als Taktgeberin. Zeitnatur und ihren Rhythmus. Diesem individuellen Bedürfnis wollen z.B. Gleitzeitmodelle entsprechen. Doch was passiert, wenn ein Mitarbeiter plötzlich Gleitzeit hat? – Er kauft sich einen Wecker, um sich neu zu standardisieren. Dabei ist die Idee, dass der Mitarbeiter seiner persönlichen Zeitnatur folgt und in der Zeit arbeitet, während der er am produktivsten ist.
Jonas Geissler: Manchmal ist es aber besser, wenn klare Regeln herrschen, z.B. bei einer Projektarbeit. Es tut den Mitarbeitenden gut, wenn sie wissen, wann ein Projekt beginnt und wann es endet. Es gibt nichts Schlimmeres als end- und uferlose Projekte. Am Ende des Projekts kann der Chef die Mitarbeitenden als Gratifikation zu einem Abendessen einladen, das gleichzeitig den Schlusspunkt markiert. So lässt sich ein Rhythmus in die Arbeit einführen.
Claudia Mattig: Wir Menschen sind ja auch endlich
Karlheinz Geissler: Natürlich. Wenn Sie unter dieser Voraussetzung an einem unendlichen Projekt mitwirken, kann das für Sie hoch bedrohlich wirken, denn es prallen zwei unvereinbare Systeme aufeinander: ein endliches und ein endloses.
Franz Mattig: Hilft mir Zeitmanagement, meine Endlichkeit in den Griff zu bekommen?
Karlheinz Geissler: Zeitmanagement bedeutet, dass Sie der Zeit, die per se keine Struktur hat, eine solche geben. Sie können das z.B. mit Hilfe einer Uhr machen und die Uhrzeit als Zeitmuster verwenden. Sie können sich aber auch an den Zeitsignalen bzw. Zeitmustern der inneren und äusseren Natur orientieren. Dieses Vorgehen schliesst die Uhr nicht aus, sondern integriert sie. Zwischen Uhr und Natur müssen Sie sich ständig neu ausbalancieren. Es gibt also kein vorgegebenes Optimum, das in jedem Fall funktioniert.
Franz Mattig: Zeitmanagement ist folglich höchst individuell.
Jonas Geissler: Was ist für Sie persönlich wichtig und wozu? Diese Wozu-Frage ist bedeutsam, damit Sie beim Arbeiten mehr Sinn erfahren können, oder aber auch innovativer und kreativer sind. Auf der anderen Seite steht natürlich das Problem des Verzichts. Je mehr Möglichkeiten und Optionen uns offen stehen, desto mehr müssen wir verzichten. Für alles reicht die Zeit einfach nicht aus. Das kann zu einem Mangelerlebnis führen.
Karlheinz Geissler: Das Schweizer Taschenmesser ist ein gutes Beispiel für Verzicht: Vernünftigerweise verwendet man immer nur eine Funktion aufs Mal. Würde man alles miteinander herausklappen, wäre das Messer unbrauchbar und seine vielen unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten sinnlos. So ist es auch mit der Zeit: Alles gleichzeitig geht nicht…