Vollversicherung - Fluch oder Segen?
Der Entscheid der AXA, künftig keine Vollversicherungen im BVG mehr anzubieten, hat schweizweit zu Diskussionen geführt. Vollversicherungslösungen waren für viele KMU bisher die Variante «ohne Sorgen und Risiko». Denn bei dieser Lösung übernimmt die Versicherung sämtliche Risiken.
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Frage
Sollen KMU teilautonome Lösungen oder Vollversicherungslösungen vorziehen? Welche Vor- und Nachteile müssen beachtet werden?
Antwort
Unterschied zwischen Vollversicherung und Teilautonomie
Das Versicherungsrisiko einer Pensionskasse besteht aus zwei Kategorien:
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Das erste Risiko betrifft allfällige Leistungspflichten bei einem Invaliditäts- oder Todesfall einer erwerbstätigen Person. Hieraus entstehen Invaliden- oder Hinterlassenenrenten. Dieses Risiko dauert bis zum ordentlichen Pensionierungszeitpunkt.
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Das zweite Risiko «Alter» setzt zeitlich bereits ab Beginn der Erwerbstätigkeit ein, da jährlich Altersgutschriften auf das individuelle Pensionskassenkonto einbezahlt und verzinst werden. Mit diesem angesparten Kapital müssen die versprochenen Altersleistungen finanziert werden können.
Eine Vollversicherung übernimmt beide Risikokategorien, das heisst sowohl das Risiko für Invaliden- und Hinterlassenenrenten als auch das Risiko für die Altersleistungen. Eine teilautonome Vorsorgeeinrichtung trägt das Risiko betreffend «Alter» selbst.
Risiko «Alter»
Das Risiko «Alter» ist in zwei Zeitabschnitte aufgeteilt:
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Während der Sparphase muss sichergestellt sein, dass die Vermögensanlagen mindestens so viel Rendite abwerfen, wie den Destinatären Zinsen gutgeschrieben werden; andernfalls entsteht eine Unterdeckung.
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Der Umwandlungssatz (die prozentuale Umrechnung des im Pensionierungszeitpunkt vorhandenen Sparkapitals in eine jährliche Rente) darf nur so hoch angesetzt werden, dass mit dem vorhandenen Kapital die Rente bis zum Tod finanziert werden kann. Sind die Umwandlungssätze zu hoch, kann auch dies zu einer Unterdeckung führen!
Für ein Null-Risiko müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
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Das Kapital muss im Zeitpunkt der Pensionierung in der Pensionskasse tatsächlich vorhanden sein respektive es darf keine Unterdeckung bestehen.
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Die versicherte Person muss genau so lange leben, wie bei der Festsetzung des Umwandlungssatz angenommen wurde und die Kapitalrendite ab Pensionierung muss genau den damals getätigten Annahmen entsprechen. Diese Voraussetzung entfällt, wenn und soweit ein Kapitalbezug erfolgt.
Stirbt ein Rentenbezieher früher als – gemäss statistischer Lebenserwartung – angenommen, ist dies für die Pensionskasse in der Regel ein Mutationsgewinn; lebt er länger, ist es für die Pensionskasse meist ein Verlustgeschäft (Langlebe-Risiko).
Deckungsgrad
Der Deckungsgrad zeigt vereinfacht ausgedrückt auf, ob die versprochenen Leistungen mit dem vorhandenen Kapital gedeckt sind. Hat beispielsweise eine Pensionskasse per 31.12.2018 ein Gesamtvermögen von CHF 9 Mio., die kapitalisierten künftigen Renten betragen jedoch CHF 10 Mio., liegt der Deckungsgrad lediglich bei 90%. Die künftigen Auszahlungspflichten sind somit nicht vollständig gedeckt. Wie erwähnt verbessert bzw. verschlechtert sich der Deckungsgrad durch Mutationsgewinne bzw. Mutationsverluste.
Die zwei Risiken
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Beginn Erwerbstätigkeit
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Ordentlicher Pensionierungszeitpunkt
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Kategorie 1:
Reines Versicherungsrisiko
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- Auszahlung Invalidenrente für versicherte Person im Schadenfall
- Auszahlung Hinterlassenenleistungen im Todesfall
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Kategorie 2:
Anlage- und Altersrisiko
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Anlagerisiko
Verhältnis erzielte Rendite der Anlagen zu Gutschrift an die Destinatäre
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- Auszahlung Altersleistungen als Kapital oder Rente
- Ablösung von Invalidenrenten durch Altersleistungen
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Er sinkt aber auch bei jeder einzelnen Pensionierung, wenn der Umwandlungssatz zu hoch angesetzt ist. In diesem Fall reicht das zum Zeitpunkt der Pensionierung zurückgestellte Kapital nicht aus, die Renten bis zum Lebensende zu decken. Folgerichtig muss mit zunehmender Lebenserwartung der Umwandlungssatz sinken!
Vermögensanlagen
Bei teilautonomen Lösungen ist das oberste Organ, paritätisch zusammengesetzt aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern, grundsätzlich für die Vermögensanlagen verantwortlich. Sie müssen dafür sorgen, dass die Vermögenswerte zur Finanzierung der Altersleistungen jeweils vorhanden sind.
In der Praxis werden diese meist von einem Anlagespezialisten einer Bank oder einer Versicherung begleitet und unterstützt. Die Verantwortlichen legen im Wesentlichen die Kriterien fest, nach denen die Vermögensanlagen getätigt werden müssen. Die grosse Herausforderung ist, eine gute Rendite auf den Anlagen zu erzielen und gleichzeitig die Risikofähigkeit nicht aus den Augen zu verlieren.
Paritätische Verwaltung
Die Aufgaben des obersten Organs einer Pensionskasse in einem KMU sind grundsätzlich im Gesetz definiert. Bei Vollversicherungslösungen beschränken sie sich im Wesentlichen auf die Auswahl des Anbieters und auf Fragen betreffend Umfang der Vorsorge, konkret ab und in welchem Rahmen Lohnanteile über das Obligatorium hinaus versichert werden.
Bei teilautonomen Lösungen ist der Aufgabenbereich viel grösser. Hier ist das Organ auch für die Anlagestrategie zuständig. Aber auch Fragen rund um die beiden Themen «Verzinsung des Kapitals für die Destinatäre» und «Umwandlungssätze» sind zu beantworten. Für Löhne im obligatorischen Bereich sind zudem zwei Vorschriften zu beachten, welche den Handlungsspielraum massiv einschränken. Es sind dies die jährlich durch den Bundesrat festzulegende Mindestverzinsung für das Kapital auf den Konten der Destinatäre sowie der gesetzlich verankerte Umwandlungssatz von 6.8%.
Fazit
Auf den ersten Blick sind teilautonome Lösungen die schlechtere Variante für KMU, da hier eine massiv höhere Verantwortung wahrzunehmen ist. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass – bei umsichtiger Strategie in Sachen Vermögensanlagen über einen längeren Zeithorizont gerechnet – meist die besseren Renditen erzielt werden. Denn bei Vollversicherungslösungen steht die Risiko-Minimierung meist zu Lasten einer guten Rendite im Vordergrund, die letztlich zu tieferen Renten und höheren Risikoprämien führt. Der Vorteil von teilautonomen Lösungen zeigt sich aber vor allem, wenn auch Löhne über dem BVG-Obligatorium von momentan CHF 84’600 mitversichert sind. Denn hier kann auch besser ein zeitgerechter Umwandlungssatz angesetzt werden.
Pensionskassenverantwortliche von KMU sollten dieses Thema deshalb mit der notwendigen Neutralität angehen. Wenn zusätzliche Aufgaben in den Bereichen Anlagestrategie, Verzinsung der Anlagen zu Gunsten der Destinatäre sowie Diskussionen rund um den Umwandlungssatz als Last angesehen werden, wird dies oft als Fluch gesehen. Wenn die dafür zuständigen Personen ihre Aufgabe verantwortungsvoll erfüllen, kann sich dieses Modell längerfristig aber als Segen für die Destinatäre herausstellen. Denn die Erfahrung in den letzten 10 Jahren hat gezeigt, dass die Verzinsung des Kapitals zugunsten der Destinatäre bei den teilautonomen Modellen in den meisten Fällen besser abgeschnitten hat als bei Vollversicherungslösungen. Die Aufgabe für die Verantwortlichen ist zweifelslos verantwortungsvoller, aber auch interessanter.
Volle Autonomie
Wenn teilautonome Lösungen bestehen, gibt es logischerweise auch vollautonome Modelle. Bei diesen trägt die Stiftung neben dem Risiko «Alter» auch das Versicherungsrisiko in Sachen Invaliden- und Hinterlassenenrente. Dieses Risiko ist schwieriger abschätzbar und kann aufgrund eines einzigen Versicherungsereignisses zu grossen Verlusten führen. Deshalb ist dieses Modell Pensionskassen mit sehr vielen Destinatären vorbehalten. Für KMU wäre es zu risikoreich.