Kapitaleinlageprinzip im Kreuzfeuer der Kritik
Am 1. Januar 2011 wurde mit der Unternehmenssteuerreform II (USTR II) das Kapitaleinlageprinzip eingeführt. Als die Eidg. Steuerverwaltung (ESTV) im Frühling 2011 verlauten liess, man müsse nun mit milliardenhohen Steuerausfällen rechnen, überschlugen sich die Medienmeldungen über die angebliche Irreführung im damaligen Abstimmungskampf. Seither ist die Politik nicht zur Ruhe gekommen. Linke Kreise forderten gar die Wiederholung der Abstimmung über die USTR II. Auch Bundesräte und Parlamentarier der Mitteparteien stellten im Rahmen der Revision des Aktien- und Rechnungslegungsrechts zusätzliche Schranken für Kapitalrückzahlungen in Aussicht. In der Frühjahrssession 2013 hat der Nationalrat die Versuche, das Rad der Zeit zurückzudrehen, zurückgebunden: Er wies eine ständerätliche Motion mit grosser Mehrheit zurück, die gefordert hatte, die angeblichen Steuerausfälle bei der kommenden USTR III zu kompensieren. – Aber ist der vollzogene Systemwechsel wirklich so falsch?
Frage
Ist der vollzogene Systemwechsel zum Kapitaleinlageprinzip wirklich falsch?
Antwort
Grundzüge des Systemwechsels
Vor Einführung des Kapitaleinlageprinzips galt jede Rückzahlung von Eigenkapital, die nicht Rückzahlung von Nennwerten darstellte, als steuerbares Einkommen (DBG und VStG), auch wenn dieses nicht aus Gewinnen, sondern aus Einlagen der Gesellschafter stammte (so genanntes Nominalwertprinzip). Seit 2011 ist das Zurückzahlen von Kapitaleinlagen (so genanntes Agio) an den Anteilsinhaber steuerfrei, auch wenn es sich nicht um Nennwert handelt. Gemäss heutigem Aktienrecht und ESTV-Kreisschreiben zum Kapitaleinlageprinzip gelten Einlagen, Aufgelder und Zuschüsse als Einlagen, wenn sie nach dem 31.12.1996 direkt von Inhabern der Beteiligungsrechte geleistet wurden, in der Handelsbilanz der empfangenden Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft verbucht und offen ausgewiesen sind und der Bestand sowie die Veränderungen dieser Reserven der ESTV formell korrekt gemeldet werden. Solche Kapitaleinlagen sind dem einbezahlten Grund- oder Stammkapital gleichgestellt. Somit unterliegen Rückzahlungen aus Reserven aus Kapitaleinlagen einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft weder der Einkommens- noch der Verrechnungssteuer, sofern die Rückzahlung gesondert ausgewiesen wird und mit einem nur zu diesem Zweck dienenden Coupon erfolgt. Es liegt allein im freien Ermessen der betreffenden Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft, wie sie ihre Ausschüttungen in steuerneutrale Rückzahlungen von Reserven aus Kapitaleinlagen und steuerbare Ausschüttungen aus übrigen Reserven aufteilen will. Massgebend sind das Verbuchen und die Qualifikation der Reserven in der Handelsbilanz der ausschüttenden Gesellschaft.
Eine solche steuerfreie Rückzahlung unterliegt bis heute einzig den bekannten Ausschüttungsbeschränkungen gemäss Art. 671 Abs. 3 und Abs. 4. Demnach können derartige Kapitaleinlagen laut ESTV ausgeschüttet werden, wenn die allgemeinen Reserven 50% (bzw. 20% bei Holdinggesellschaften) des Aktienkapitals übersteigen. Es sei an dieser Stelle jedoch angemerkt, dass Kapitaleinlagereserven, die zur Ausbuchung von handelsrechtlichen Verlustvorträgen herangezogen wurden, nicht mehr steuerneutral an die Anteilsinhaber ausgeschüttet werden können.
De facto wurde also vor dem Systemwechsel vom Nominalwert- zum Kapitaleinlageprinzip bereits versteuertes Geld aus steuersystematischen Gründen erneut besteuert. Mit einer Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hatte dies überhaupt nichts gemein. Allein schon darum ist der Systemwechsel absolut richtig.
Steuerausfälle? – Nein, Steuerzuwachs!
Es ist wohl auch dem damals bevorstehenden Wahlkampf 2011 geschuldet, wenn behauptet wurde, es würden Steuergeschenke in Milliardenhöhe verteilt. Einerseits verzichtet der Fiskus auf eine Steuer, die ohne Systemwechsel in den meisten Fällen gar nicht ausgelöst worden wäre (weil das Agio nicht ausgeschüttet oder weil die Kapitaleinlagen ausländischer Konzerne ohne Systemwechsel gar nie in die Schweiz verlegt worden wären). Anderseits waren die in den Medien kolportierten Zahlen über die Höhe der zu erwartenden Mindereinnahmen völlig an den Haaren herbeigezogen. Der Grund ist einfach: Die Steuerfolgen hängen davon ab, wer eine Dividende bzw. die Rückzahlung einer Kapitaleinlage erhält. – Doch niemand weiss, wo die Schweizer Aktienwerte liegen!
Wenn also von steuerlichen Mindereinnahmen gesprochen werden darf, handelt es sich um die Einkommenssteuerfolgen von kurzfristig durch Kapitalrückzahlungen ersetzten Dividendeneinnahmen von in der Schweiz wohnhaften Privatpersonen sowie um die bisher nicht zurückgeforderte Verrechnungssteuer auf Aktien, die schwarz oder durch ausländische Aktionäre gehalten wurden. Aktionäre mit Wohn- oder Geschäftssitz im Ausland bezahlen in der Schweiz ohnehin keine Einkommens- oder Gewinnsteuer. Diese Aktionäre mit Wohn- oder Geschäftssitz in einem Land, das über ein Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz verfügt, können die Verrechnungssteuer ebenfalls vollständig – oder bis zu einem Sockelsteuersatz von maximal 15% – zurückfordern. Für alle übrigen Aktionärskreise (z.B. buchführungspflichtige Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, Schweizer Pensions-, und Ausgleichskassen sowie andere privilegierte Vorsorgeeinrichtungen) ist es steuerlich einerlei, ob sie Dividenden oder Kapitalrückzahlungen vereinnahmen. Aufgrund dieser grossen Unsicherheiten liessen sich die Steuerfolgen des Systemwechsels unmöglich abschätzen.
In der Tat sind die damaligen Propheten heute Lügen gestraft worden. Allein die nackten Zahlen belegen, dass der Verrechnungssteuerertrag (= Steuereingänge abzüglich Rückerstattungen) im Jahr 2011 um rund CHF 1.6 Mia. höher ausfiel als im Jahr 2010 (EFD, Staatsrechnung 2011, Band 1, S. 39). Mit diesem Resultat wurde der Voranschlag gar um CHF 2.2 Mia. übertroffen! Aus steuersystematischer Sicht war das Theater um das Kapitaleinlageprinzip also absolut unverständlich. Es muss darum unterstellt werden, dass dieses ohne Blick auf den Wahlherbst 2011 wohl kaum stattgefunden hätte.
Missbrauch des Handelsrechts für fiskalische Zwecke
Leider wird das Kapitaleinlageprinzip wohl weiter auf der politischen Agenda bleiben. Im Rahmen der anstehenden Aktienrechtsrevision steht eine Ausschüttungssperre für Kapitaleinlagen im Vordergrund.
Der Entwurf zur Revision des Aktienrechts sieht bezüglich des Kapitaleinlageprinzips eine neue Regelung in Sachen Reservenzuweisung vor. Neu wird zwischen Kapitalreserven und Gewinnreserven unterschieden. Als Gewinnreserven gelten alle Reserven, die aus einbehaltenen Unternehmensgewinnen entstanden sind. Kapitalreserven sind alle Kapitaleinlagen von Aktionären, die nicht auf das Nominalkapital gebucht wurden (Agio und Zuschüsse). Laut Art. 671, Abs. 2, Ziff. 1–3 E-OR, dürfen die Kapitaleinlagereserven nur noch in diesen Fällen verwendet werden:
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Zur Deckung von Verlusten.
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Für Massnahmen zur Weiterführung des Unternehmens bei schlechtem Geschäftsgang.
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Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Milderung ihrer Folgen
Diese abschliessende Aufzählung entspricht übrigens der aktuell geltenden, restriktiven Regelung für das Verwenden von allgemeinen Reserven, welche die Hürde von 50% des Aktienkapitals (bzw. von 20% bei Holdinggesellschaften) gemäss Art. 671, Abs. 3 OR, nicht erreichen.
Reserven aus Kapitaleinlagen unterliegen im Entwurf zum neuen Aktienrecht also einer rigorosen Dividendenausschüttungssperre. Solche Kapitaleinlagen würden sich in Zukunft somit nur noch mittels Kapitalherabsetzung an die Aktionäre zurückführen lassen. Hier gibt es wenigstens einen schwachen Trost: Bei einer künftigen Kapitalherabsetzung soll die Prüfungsbestätigung der Revisionsstelle dem Schuldenruf nachgelagert werden, und das Sicherstellungsrecht der Gläubiger soll bei einer vorbehaltslosen Prüfungsbestätigung der Revisionsstelle entfallen. Bleibt zu hoffen, dass die Bestimmungen von Art. 671, Abs. 1, Ziffer 3, sowie Abs. 2 E-OR, nicht in die definitive Version des Obligationenrechts einfliessen und damit keine weitreichende Aushebelung des Kapitaleinlageprinzips erfolgt.
Politisches Hamsterrad
Neben den bereits angesprochenen Steuerkompensationen im Rahme der USTR III und der möglichen handelsrechtlichen Ausschüttungssperre von Kapitaleinlagen werden vom Bundesrat folgende Handlungsoptionen weiterverfolgt:
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Einführung einer Prioritätsregel (statt einer absoluten Ausschüttungssperre)
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Einschränkungen beim steuerfreien privaten Kapitalgewinn bzw. Einführung einer Beteiligungsgewinnsteuer im Privatvermögen
Vor dem Hintergrund dieser politischen Unsicherheiten haben viele Publikumsgesellschaften hohe Kapitalrückzahlungen vorgenommen. Politisch ist es überaus bedauerlich und unverständlich, dass kürzlich erfolgte Schritte in Richtung Flexibilisierung der Unternehmensfinanzierung (die standortpolitisch auch die gewünschten Erfolge zeigen) aufgrund gezielter Fehlinformationen zurückgesetzt werden. Hier wähnt man sich in einem politischen Hamsterrad. Für KMU lässt sich damit der Schluss ziehen, dass auch solche Gesellschaften Kapitalrückzahlungen ernsthaft prüfen oder zumindest die politischen Entwicklungen eng überwachen sollten.