Reform der Verrechnungssteuer
Am 25. September 2022 wird über die Reform der Verrechnungssteuer abgestimmt. Im Zentrum steht die Abschaffung der Verrechnungssteuer auf Schweizer Obligationen.
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Frage
Worum geht es überhaupt und welche Auswirkungen sind zu erwarten?
Antwort
Bei Obligationen handelt es sich um standardisierte und üblicherweise verbriefte Formen von Darlehen, welche insbesondere von Grossunternehmen und Staaten zur Aufnahme von Fremdkapital genutzt werden. Kaufen kann Obligationen grundsätzlich jedermann. Hauptsächlich handelt es sich bei den Gläubigern jedoch um institutionelle Investoren wie Pensionskassen, Versicherungen, Banken und Fonds.
Nach geltendem Recht wird auf den Zinsen aus Schweizer Obligationen eine Verrechnungssteuer von 35% erhoben. Sofern eine in der Schweiz ansässige Person die Zinseinnahmen ordentlich deklariert und versteuert, erhält sie die Verrechnungssteuer zurück. Die Verrechnungssteuer stellt demnach als Sicherungssteuer ein Depot dar, welche die Ehrlichkeit der Steuerpflichtigen sicherstellen soll. Für Ausländer ist die Steuer grundsätzlich definitiv, wobei die Schweiz mit vielen Ländern Abkommen geschlossen hat, wonach auch diese die Verrechnungssteuer ganz oder zumindest teilweise zurückfordern können. Sofern mit einem Land kein Abkommen besteht, oder keines mit vollständiger Rückforderung, so kann der Bund mit der Verrechnungssteuer Einnahmen generieren. Zudem kann der Bund selbst bei vorliegender Rückzahlungsverpflichtung die eingenommene Verrechnungssteuer bis zur Rückforderung auf eigene Rechnung anlegen, um Zinseinnahmen zu generieren.
Ausgangslage
Auf dem internationalen Kapitalmarkt wird die Verrechnungssteuer aufgrund des negativen Liquiditätseffekts sowie dem administrativen Aufwand kaum akzeptiert. Insbesondere bei grossen Geldgebern wie ausländischen Pensionskassen fällt es durchaus ins Gewicht, dass die Gelder bis zur Rückzahlung gesperrt sind und in dieser Zeit nicht angelegt werden können. Aus diesem Grund werden Obligationen, welche sich an das internationale Publikum richten, selten aus der Schweiz ausgegeben, denn in Ländern wie Luxemburg, Irland oder auch Liechtenstein gibt es keine Verrechnungssteuer auf Zinsen aus Obligationen. Warum soll also ein Anleger eine Anleihe einer Schweizer Gesellschaft mit 35% Verrechnungssteuer auf dem Zins kaufen, wenn er eine Anleihe derselben Gesellschaft auch ohne Verrechnungssteuer haben kann? Es erstaunt nicht, dass der Standort Schweiz im Obligationenmarkt nicht konkurrenzfähig ist.
Dies veranschaulicht auch die Entwicklung der eingenommenen Verrechnungssteuern auf Obligationszinsen. Diese sind seit Jahren stark rückläufig und werden ohne Intervention wohl auch noch weiter schrumpfen.
Seit 2006 sind die Einnahmen um über die Hälfte zurückgegangen. Wohlgemerkt handelt es sich hier auch nicht um die Gewinne, sondern eben um die vorübergehend eingenommene Verrechnungssteuer, wovon der Grossteil wieder zurückerstattet werden muss.
2006
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3.30 Mrd.
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2007
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3.38 Mrd.
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2008
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3.53 Mrd.
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2009
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3.38 Mrd.
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2010
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3.00 Mrd.
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2011
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2.93 Mrd.
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2012
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2.94 Mrd.
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2013
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2.81 Mrd.
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2014
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2.62 Mrd.
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2015
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2.49 Mrd.
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2016
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2.43 Mrd.
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2017
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2.20 Mrd.
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2018
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1.82 Mrd.
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2019
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1.81 Mrd.
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2020
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1.62 Mrd.
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2021
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1.54 Mrd.
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Die Abstimmung trägt den Slogan «Stärkung des Fremdkapitalmarkts». Dies, weil durch die Abschaffung der Verrechnungssteuer auf Obligationszinsen erreicht werden soll, dass wieder vermehrt Obligationen aus der Schweiz heraus emittiert und damit wieder ein Teil des Fremdkapitalmarktes in die Schweiz zurückgeholt werden kann.
Kosten der Umsetzung
Wird keine Verrechnungssteuer mehr auf Zinsen aus neu ausgegebenen Obligationen erhoben, jedoch noch die bereits in den vergangenen Jahren eingenommenen Verrechnungssteuern sukzessive zurückgezahlt, werden einmalige Kosten von rund CHF 1 Mrd. anfallen. Beim Bund, welcher 90% davon trägt, ist die Rückzahlungsverpflichtung bereits buchhalterisch berücksichtigt und betrifft das Budget somit nicht. Auch die Kantone sollten grundsätzlich ihre Verpflichtungen zurückgestellt haben.
Wie eingangs erwähnt, kann die Schweiz einen Teil der von Ausländern eingenommenen Verrechnungssteuern mangels internationaler Verträge einbehalten. Entfällt die Verrechnungssteuer, entfallen auch diese Einnahmen. Zudem werden geschätzte 16% der Verrechnungssteuer auf Obligationszinsen trotz Berechtigung nicht zurückgefordert. Die langfristigen Mindereinnahmen werden hierbei von der ESTV auf jährlich CHF 215–275 Mio. geschätzt.
Zinsniveau
Allein aufgrund des steigenden Zinsniveaus sollen gemäss SP zusätzliche Verluste von jährlich CHF 600–800 Millionen entstehen. Diese Zahl kann nicht nachvollzogen werden. Selbst wenn die ESTV die gesamten Verrechnungssteuereinnahmen auf Obligationszinsen der Jahre 2019–2021 zur Verfügung hätte, könnte sie bei einem zurzeit illusorischen Jahreszins von 4% lediglich einen Gewinn von rund CHF 200 Mio. pro Jahr erzielen. Da die Verrechnungssteuer jedoch deutlich zügiger zurückgefordert wird und die laufenden Einnahmen Jahr für Jahr zurückgehen, scheint selbst diese grosszügige Milchbüchleinrechnung bereits unrealistisch hoch. Die ESTV rechnet sodann bei steigenden Zinsen und gleichbleibenden Einnahmen langfristig mit Mindereinnahmen im zweistelligen Millionenbereich.
Steuerkriminalität
Laut Gegnern der Vorlage führt der Wegfall der Verrechnungssteuer als Sicherungssteuer zu vermehrter Steuerkriminalität. Diese Kritik ist zumindest teilweise berechtigt. Gegenüber Ausländern wird die Steuerehrlichkeit bereits mit dem automatischen Informationsaustausch sichergestellt. Bezüglich Inländern werden seitens der Schweizer Depotbanken aufgrund des Bankgeheimnisses keine Daten mit der Steuerverwaltung geteilt. Ein markanter Anstieg der Steuerkriminalität ist hier nach unserer Einschätzung aber nicht zu erwarten, da die Verrechnungssteuer bereits dadurch völlig legal vermieden werden kann, indem eine im Ausland ausgegebene Anleihe derselben Gesellschaft gekauft wird.
Chancen der Umsetzung
Durch die steuerliche Angleichung an die internationalen Gegebenheiten kann der Finanzplatz Schweiz gestärkt werden. Schweizer Anlageprodukte werden für Anleger im In- und Ausland wieder interessant. Schweizer Unternehmen (wie auch ausländische) werden ihr Fremdkapital wieder vermehrt über den Schweizer Finanzmarkt aufnehmen. Dies führt zu einer Rückführung von Gewinnen und Mitarbeitern in die Schweiz. Rund 80% der Fremdfinanzierung Schweizer Unternehmen geschieht laut Schätzung der BAK Economics zurzeit im Ausland. Ein immenses Repatriierungspotenzial. BAK Economics schätzt, dass durch die Reform 22’000 zusätzliche Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen sowie ein zusätzliches Wachstum des Bruttoinlandprodukts zwischen 0.7–2.5% über die nächsten zehn Jahre erreicht werden können.
Da die Studie noch zusätzliche Gesetzesänderungen beinhaltet, welche in der aktuellen Vorlage nicht enthalten sind, rechnet der Bund mit einem Wachstum des BIP von 0.5% über fünf Jahre und gesamthaft 0.7% über zehn Jahre. Unter der Annahme, dass die Steuereinnahmen proportional zum Bruttoinlandprodukt wachsen, kann mit zusätzlichen Steuereinnahmen von rund CHF 350 Mio. in fünf Jahren resp. CHF 490 Mio. in zehn Jahren gerechnet werden.
Dazu kommt, dass im konkurrenzfähigen Marktumfeld Bund, Kantone und Gemeinden zu günstigeren Konditionen Geld aufnehmen und damit Zinskosten von geschätzten CHF 60–200 Mio. pro Jahr einsparen können. Hinzu kommen die Zinseinsparungen bei den Spitälern, Energieversorgern und ähnlichen staatlichen und teilstaatlichen Betrieben. Diese Einsparungen sind langfristig zu sehen, da die Zinsbelastung der öffentlichen Hand im aktuellen Zinsumfeld generell stark zurückgegangen ist.
Fazit
In Zeiten, in welchen Unternehmen physische Zinscoupons ausgegeben haben, welche am Schalter anonym in bar ausbezahlt wurden, erscheint eine Sicherungssteuer plausibel. In der heutigen Zeit erfüllt die Verrechnungssteuer auf Obligationszinsen ihren Sicherungszweck nur noch bedingt, stellt hingegen einen massiven Standortnachteil dar. Während die Kosten und Nutzen der Vorlage nur schwer quantifizierbar sind, lässt sich zumindest erahnen, dass die Reform finanziell selbsttragend sein sollte.