Aufgaben und Pflichten des Verwaltungsrates bei finanzieller Notlage
Der Verwaltungsrat trägt die finanzielle Verantwortung einer Aktiengesellschaft. Dies gilt in besonderem Masse, wenn die Gesellschaft in eine finanzielle Notlage gerät. Das per 1. Januar 2023 in Kraft getretene revidierte Aktienrecht konkretisiert diese Pflichten des Verwaltungsrates namentlich in Bezug auf die drohende Zahlungsunfähigkeit, den Kapitalverlust und die Überschuldung. Bei einer Pflichtverletzung drohen dem Verwaltungsrat empfindliche Konsequenzen.
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Frage
Welche Pflichten hat der Verwaltungsrat bei finanzieller Notlage der Gesellschaft und was sind die Folgen einer Verletzung dieser Pflichten?
Antwort
Finanzielle Verantwortung
Der Verwaltungsrat besorgt die Oberleitung der Gesellschaft und ist verantwortlich für die Ausgestaltung des Rechnungswesens, der Finanzkontrolle sowie der Finanzplanung (Art. 716a OR). Dabei handelt es sich um eine unentziehbare und unübertragbare Aufgabe des Verwaltungsrates. Diese finanzielle Oberverantwortung trägt der Verwaltungsrat selbst dann, wenn er die Geschäftsführung auf Drittpersonen überträgt. Bei finanzieller Notlage der Gesellschaft, namentlich bei drohender Zahlungsunfähigkeit, bei Kapitalverlust und bei Überschuldung, obliegen dem Verwaltungsrat besondere Pflichten.
Zahlungsunfähigkeit
Bei drohender Zahlungsunfähigkeit ist der Verwaltungsrat verpflichtet, Massnahmen zur Sicherstellung der Liquidität zu ergreifen. In Frage kommen beispielsweise die Vereinbarung über die temporäre Erhöhung von Kreditlimiten, die Aufnahme neuer Darlehen oder die Einführung von Kurzarbeit. Falls erforderlich, hat der Verwaltungsrat zudem Massnahmen zur langfristigen Sanierung der Gesellschaft zu ergreifen oder solche der Generalversammlung zu beantragen, sofern diese Massnahmen in deren Zuständigkeit fallen (bspw. eine Kapitalerhöhung). Der Verwaltungsrat ist gesetzlich verpflichtet, «mit der gebotenen Eile», d.h. rasch zu handeln, um den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit, soweit möglich, zu verhindern.
Es liegt im pflichtgemässen Ermessen des Verwaltungsrates, die einzelnen Massnahmen zu ergreifen. Er ist damit nicht in jedem Fall dazu verpflichtet, die Generalversammlung einzuberufen. Reichen die Massnahmen des Verwaltungsrates jedoch nicht aus, um die Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen, hat er die Generalversammlung einzuberufen und dieser weitergehende Massnahmen zu beantragen. Spätestens bei der Zustellung der Jahresrechnung ist die Generalversammlung über die vom Verwaltungsrat getroffenen Sanierungsmassnahmen zu informieren.
Kapitalverlust
Ein Kapitalverlust liegt vor, wenn die Aktiven abzüglich der Verbindlichkeiten nicht mehr die Hälfte der Summe aus Aktienkapital, nicht an die Aktionäre zurückzahlbare gesetzliche Kapitalreserven und gesetzlichen Gewinnreserven, zu decken vermögen. Zeigt die letzte Jahresrechnung einen Kapitalverlust, muss der Verwaltungsrat Massnahmen zur Beseitigung des Kapitalverlusts ergreifen bzw. solche der Generalversammlung beantragen.
Seit 1. Januar 2023 ist der Verwaltungsrat bei einem Kapitalverlust zudem verpflichtet, die Jahresrechnung vor ihrer Genehmigung durch die Generalversammlung einer eingeschränkten Revision durch einen zugelassenen Revisor zu unterziehen (Art. 725a Abs. 2 OR). Diese Pflicht besteht auch dann, wenn die Gesellschaft zuvor auf die eingeschränkte Revision verzichtet hat (sog. Opting-out). Auf die Revisionsprüfung der Jahresrechnung kann nur verzichtet werden, wenn der Verwaltungsrat beim zuständigen Gericht ein Gesuch um Nachlassstundung einreicht (Art. 725a Abs. 3 OR).
Überschuldung
Bei der begründeten Besorgnis, dass die Gesellschaft überschuldet ist (d.h. die Aktiven der Gesellschaft vermögen die Verbindlichkeiten nicht mehr zu decken), hat der Verwaltungsrat unverzüglich je einen Zwischenabschluss zu Fortführungswerten und zu Veräusserungswerten zu erstellen. Nach dem neuen Aktienrecht kann auf einen Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten verzichtet werden, wenn die Annahme der Fortführung der Geschäftstätigkeit gegeben ist und der Zwischenabschluss zu Fortführungswerten keine Überschuldung aufweist. Wird auf eine Fortführung der Geschäftstätigkeit verzichtet, reicht ein Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten. Der Verwaltungsrat hat beide Zwischenabschlüsse durch die Revisionsstelle, oder wenn eine solche fehlt, durch einen zugelassenen Revisor prüfen zu lassen.
Ist die Gesellschaft gemäss beiden Zwischenabschlüssen überschuldet, hat der Verwaltungsrat das Gericht zu benachrichtigen. Man spricht hier auch von der «Bilanzdeponierung». Das Gericht eröffnet entweder den Konkurs oder das Nachlassverfahren. Die Benachrichtigung des Gerichts kann ausnahmsweise unterbleiben, wenn Gesellschaftsgläubiger für ihre Forderung im Ausmass der Überschuldung im Rang hinter alle anderen Gläubiger zurücktreten. Seit Inkrafttreten des neuen Aktienrechts hat dieser Rangrücktritt neben dem geschuldeten Betrag zwingend auch die Zinsforderungen während der Dauer der Überschuldung zu umfassen.
Ebenfalls neu kann auf die Benachrichtigung des Gerichts auch ohne Rangrücktritt verzichtet werden, wenn die begründete Aussicht besteht, dass die Überschuldung spätestens 90 Tage nach Vorliegen der Zwischenabschlüsse behoben werden kann und dass die Forderungen der Gläubiger nicht zusätzlich gefährdet werden.
Haftung des Verwaltungsrates
Wenn der Verwaltungsrat bei finanzieller Notlage des Unternehmens seinen Pflichten nicht nachkommt, kann er persönlich verantwortlich gemacht werden. Sowohl die Aktionäre als auch die Gesellschaft können den Verwaltungsrat und alle mit der Geschäftsführung betrauten Personen für den Schaden haftbar machen, der ihnen durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung seiner Pflichten entstanden ist.
Besitzt der Verwaltungsrat nicht die Fähigkeit zur Überwachung der finanziellen Lage der Gesellschaft oder zum Ergreifen geeigneter Massnahmen, schützt ihn das nicht vor einer Haftung. Im Gegenteil ist er dazu verpflichtet, sich dieses Wissen respektive diese Fähigkeiten extern einzuholen und sich entsprechend beraten zu lassen oder ansonsten das VR-Mandat niederzulegen.
Ein besonderes Haftungsrisiko besteht für Verwaltungsräte sowie für alle mit der Geschäftsführung oder der Liquidation befassten Personen bei Sozialversicherungsausständen. Kommen nämlich die Sozialversicherungen im Falle eines Konkurses der Gesellschaft wegen noch nicht beglichener Beiträge zu Schaden, können die damals verantwortlichen Organe direkt und persönlich belangt werden. Dies unabhängig davon, ob das jeweilige Organ überhaupt für die Finanzen zuständig war. Eine vergleichbare Haftung besteht auch bei Ausständen bezüglich der direkten Bundessteuer.
Schliesslich kann im Konkurs der Gesellschaft gar eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Verwaltungsrats drohen, insbesondere wenn die Verbote der Schädigung von Gläubigern durch Vermögensminderung (Art. 164 StGB) und der Bevorzugung eines Gläubigers (Art. 167 StGB) missachtet wurden.
Handlungsempfehlungen
Gerät eine Gesellschaft in finanzielle Notlage, empfiehlt es sich, Verwaltungsratssitzungen in verkürzten Intervallen abzuhalten, um den Stand der Sanierungsbemühungen zu diskutieren und deren Erfolgsaussichten fortlaufend zu evaluieren. Dabei ist im besonderen Masse auf eine saubere Protokollführung zu achten. Damit kann im Nachhinein das eigene pflichtgemässe Verhalten nachgewiesen werden.
Weiter sollte der Verwaltungsrat die Liquiditätsplanung eng führen, um dem Revisor aufzuzeigen, dass die Gesellschaft zur Fortführung ihrer Geschäfte fähig ist. Stellt der Revisor nämlich diese Fortführungsfähigkeit aufgrund mangelnder Liquidität in Frage, muss der Konkursrichter angerufen werden. Weiter sollte jedes Organ einer juristischen Person im Rahmen der Liquiditätsplanung ein besonderes Augenmerk auf die Sicherstellung und rechtzeitige Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge und der direkten Bundessteuer haben.
Bei älteren bestehenden Rangrücktritten ist seit dem 1. Januar 2023 zu prüfen, ob diese auch die Zinsforderungen umfassen. Ansonsten befreien sie im Falle der Überschuldung nicht mehr vom Deponieren der Bilanz beim Gericht.
Der Verwaltungsrat sollte sich zudem laufend mit den Aktionären und dem Revisor austauschen. Dies wirkt vertrauensbildend und hilft bei einer raschen Umsetzung von Sanierungsmassnahmen, die deren Mitwirkung erfordern (insbesondere Kapitalerhöhung und Wandlung von Darlehen in Aktienkapital).
Schliesslich sollten die Zahlungen an die Gläubiger eng überwacht werden, um sich nicht dem Vorwurf der Gläubigerbevorzugung bzw. -benachteiligung, der Gläubigerschädigung durch Vermögensverminderung oder der Bevorzugung eines Gläubigers auszusetzen.
Fazit
Gerät eine Gesellschaft in finanzielle Notlage obliegen dem Verwaltungsrat zahlreiche Pflichten. Kommt er diesen Pflichten nicht nach, kann er gegenüber den Aktionären und der Gesellschaft für den aus der Pflichtverletzung entstandenen Schaden persönlich haftbar gemacht werden. Eine besondere Verantwortlichkeit besteht zudem gegenüber den Sozialversicherungen und in Bezug auf die direkte Bundessteuer. Der Verwaltungsrat ist demnach gut beraten, sich zeitnah rechtlichen Beistand zu holen, um sich nicht nachträglich Verantwortlichkeitsansprüchen oder gar strafrechtlichen Sanktionen auszusetzen.